Kapitel 4 der Serie
Foto: Wird oft vergessen. Ein Lob schadet nie! Marie-Charline Herld in einem outfit von CENTAURALSTUDIO auf Yerbero.
Wie es weiter ging - Rückblick auf das dritte Kapitel
Der letzte Beitrag führte uns bis zum Ende des 19.Jhd. und reflektiert die beiden mächtigen Einschnitte, welche die Reitkunst eher an den Rand drängten. Zum einen die Mode, englische Vollblutpferde auch auf dem Kontinent züchterisch einzusetzen, zum anderen die Kriegsrelevanz der Pferde, welche dazu geführt hat, dass die Ausbildungsmethodik von Reiter und Pferd in die Hände des Heeres ging. Eine Entwicklung welche den Begriff Dressur in den Sprachgebrauch gebracht hat und das Dressurreiten als ein sportliches Pendant zur Reitkunst einen Wettbewerbsgedanken ausgelöst hat. Last but not least beschäftigte uns die Kaiserin Elisabeth II von Österreich-Ungarn, die erste Repräsentantin der reitenden Frau schlechthin.
In ihrer Entourage befinden sich Expertinnen und Experten zu eigentlich allen Spielarten der europäischen Reitweisen wie wir sie auch heute noch betreiben, auch der Zirzensik und der Freiheitsdressur. Da Elisabeth so eine spannende Person für Reiterinnen ist, bleiben wir noch ein wenig bei ihr.
Es gibt Geschichten, die behauten dass sich Sisi einige Male heimlich als Knabe verkleidet, rittlings auf ein Pferd gesetzt hätte. Sicher ist, dass sie fast jeden Kilometer ihres Reiterinnenlebens im Damensattel verbracht hat. In der Vielzahl an Fotografien und gemalten Bildern sieht man eine enorm gut aussehende, sehr schlanke und unnahbare Dame auf einem im Vollbluttyp stehenden Pferd, in allen Gangarten souverän. Sie galt nicht nur als die schönste Frau, sondern auch die beste Reiterin Europas. Ja, sie eine Legende! Doch was trug die Legende? Anstelle eines Reitunterrockes wählte sie für sich eine Unterhose aus sehr weichem Rehleder, eine Innovation. Über das Schnürkorsett ein Reitkleid in gedeckten Farben: braun, dunkelgrün, dunkelblau, später ausschliesslich schwarz. Wie interessant! Diese Farben sind noch heute die führenden Farben der Reitbekleidung. Im Buch ‚Sisi’ von Karen Duve stehen wir einigermaßen oft beim morgendlichen Einnähen der Kaiserin in ihr Reitkleid mit in der Ankleide. Die Schneiderin durfte den kaiserlichen Körper nicht mit dem Finger berühren. Was für eine Fingerfertigkeit!
Anschliessend gehen mit ihr auf die Jagd, möglicherweise auf eine Parforcejagd. Das bedeutet 20 - 30 km gestreckter Galopp auf einem Vollblutpferd. Wer würde ihr das heute nachmachen? Oder nachmachen wollen?
Etwa zur gleichen Zeit schrieb Gustav Steinbrecht sein berühmtes Buch ‚Das Gymnasium des Pferdes‘, eine Reitlehre die uns bis heute noch beschäftigt.
Sisi & Bay Middleton(?) bei einem Ausritt.
Man beachte die stets durchhängenden Trensenzügel und den kaum sichtbaren Kontakt zur Hand an der Kandare.
Stefanie Stockhausen schreibt in ihrem Buch ‚Ars Equitandi‘
„Der – überraschend kurze und direkte – Vermittlungsweg von der frühneuzeitlichen ars equitandi in die derzeit gültigen Richtlinien für Reiten und Fahren der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) lässt sich in großem Bogen wie folgt skizzieren: Einen zentralen Grundstein für die Richtlinien bildete die in Reiterkreisen – trotz berechtigter zivilgesellschaftlicher Ressentiments – neuerdings zu Recht wieder häufiger als beachtenswertes Elementarwerk der Reitlehre gewürdigte Heeresdienstvorschrift Nr. 12 (kurz ›H. Dv. 12‹ genannt), die in ihrer letzten, gekürzten Fassung von 1937 fortwirkt bis in die Richtlinien der FN. Diese richtungweisende militärische Reitvorschrift hatte Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) am 29. Juni 1912 im Potsdamer Neuen Palais mit seiner Unterschrift in Kraft gesetzt. Sie löste die bis dahin gültige Instruktion zum Reitunterricht für die Kavallerie von 1882 ab. Der Sache nach speist sie sich im Wesentlichen aus (Eduard) Gustav Steinbrechts (1808–1885) Reitlehrbuch 'Das Gymnasium des Pferdes', das erstmals 1884 veröffentlicht wurde.“
Gustav Steinbrecht galt noch als Reitmeister im Sinne der barocken Reitkunst, sein posthum erschienenes Buch indes wird als Grundstein einer sogenannten modernen deutschen Reitweise angesehen. Diese war vor allem die Grundlage einer effizienten Ausbildung etlicher Soldaten. Er brachte die Begriffe des Vorwärts und Geraderichten in die Nomenklatur reiterlicher Fachsprache ein. Retrospektiv ist es im Hinblick auf die Verwendung seiner Reitlehre durch das Militär nicht verwunderlich, dass aus dem Vorwärts und Gerade gerichtet ein Geradeaus wurde. Ein ziemlich eklatantes Missverständnis, aber passend zu einer Zeit, in der die Eisenbahn bereits erfunden war und überall Schienen gezogen wurden.
Reitkunst ist eine Sache der Damen zum 'fin du siecle'.
Einhergehend mit der Industrialisierung ab Beginn/Mitte des 19 Jhd. hatte sich auch die Art, wie man den Körper betrachte, geändert. Da die Motoren und verbunden damit Maschinen omnipräsent waren, dachte man auch die Physiologie immer mehr als ein Funktionsprinzip. Bent Branderup erklärt im Buch: „Die Logik hinter den Biegungen“ :
„..was Steinbrecht in seiner Zeit beobachten konnte. Sein Lehrmeister und Bruder seines Schwiegervaters war Louis Seeger. Dieser erklärte die Physiologie des Pferdes im Zeitalter der Industrialisierung mit einem Modell ineinander greifender Zahnräder. So meinte er in der Ausbildung des Pferdes mit der aktiven Aufrichtung des Pferdehalses, die Hinterhand niederdrücken zu müssen.“
Wenn wir genau hinschauen prägt dieses Funktionsmodell vom Körper grundsätzlich die nachfolgende Epoche bis heute.
Doch kein Einschnitt in die Reiterei war schliesslich größer als die beiden Weltkriege, welche das Pferd - und auch andere Tiere - zu kriegsrelevantem Gerät deklassierte.
Dieser launige, undatierte Schnappschuss weist kaum auf den Schrecken hin, der vor oder hinter diesen Pferden und Menschen lag. Die Szene spielt sich möglicherweise in einem Güterwaggon ab.
Das Pferd war zur Zeit Kaiser Wilhelm II mehr denn je der Motor der Welt. «Ich glaube an das Pferd, das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.» Dieses Zitat wird dem letzten deutschen Kaiser zugeschrieben. Der Höhepunkt der Pferdenutzung wurde im Jahr 1910 erreicht, nur vier Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Pferde wurden im Zivilleben als Transportmittel und in der Landwirtschaft eingesetzt. Doch der erste Weltkrieg benutzte die Tiere, genauso wie die Menschen. Weltweit waren ca. 20 Millionen Pferde im Kriegseinsatz. Ein im ersten Weltkrieg eingesetztes Artilleriepferd hatte eine durchschnittliche Lebenserwartung von zehn Tagen. Kanonenfutter also.
Dennoch wäre laut dem Miltärhistoriker Prof.Dr. Rainer Pöpinghege der erste Weltkrieg ohne den Einsatz der Pferde nicht möglich gewesen. „Die hätten gar nicht so viel schießen können, weil sie die Munition nicht zur Front hätten schaffen können.“ In dieser mörderischen Zeit dachte wohl kaum einer mehr über Reitkunst oder Dressurreiten nach.
Wilhelm II von Hohenzollern konnte sich eine Welt mit Autos nicht vorstellen. Er glaubte an den Fortbestand des Pferdes.
Die Abschaffung des Pferdes als ‚Motor der Welt‘ schliesslich, spätestens nach dem zweiten Weltkrieg, änderte die Zweckbestimmung des Pferdes vollständig. All die verschiedenen Pferdeberufe wurden schlicht nicht mehr gebraucht. Die Bestände gingen massiv zurück. Erst mit dem Wirtschaftswunder wurde das Pferd - wieder - zum Statussymbol einer gesellschaftlichen Oberschicht, die man als Geldadel bezeichnen kann. Zunächst waren es die Rennpferde, also schon wieder die englisch Vollblüter, auf die von allen Seiten gesetzt wurde. Dann kamen die Erfolge der sogenannten Sportreiter, speziell bei den Olympischen Spielen. Die Medaillen der deutschen Reiter waren noch weit vor dem Fußball sehr wichtig für das Selbstbewusstsein im Nachkriegsdeutschland.
Sie prägen bis heute auch das Bild vom elitären Reitsport.
Man denke an Ikonen wie Hans Günter Winkler, Dr. Josef Neckermann, Dr. Rainer Klimke, Uwe Schulten-Baumer. Von Reiterinnen im Dressurreiten kennt man aus der Zeit zwischen 1959-90 eigentlich nur Lieselotte Linsenhoff. Doch dann wird das Sportreiten allmählich Frauensache, ein letzter Paradigmenwechsel.
Der Begriff Pferdesport ist nun gängig, egal welche Disziplin, auch Dressur. Sport bedeutet Wettkampf und Erfolg. Das Ergebnis dieser Entwicklung sehen wir heute in der Art wie gezüchtet wird, wie gelehrt wird und mit den Pferden Umgang gepflegt wird. Für viele Menschen muss es schnell gehen und effektiv sein.
Reiten ist ist heute glücklicherweise keine Beschäftigung einer gesellschaftlichen Elite mehr. Die Reiter spalteten sich bereits in den 1980er Jahren in verschiedene Lager und durch die sogenannten Freizeitreiter kam endlich eine neue Haltung zum Pferd überhaupt auf. Neue, artgerechte Haltungsformen entstanden. Man entdeckt das Wanderreiten. Raus in den Wald! Man will seine freie Zeit möglichst entspannt mit den Pferden verbringen. Doch auch dies kann einen Anspruch haben.
Mittlerweile gibt es wieder Raum für eine Renaissance der Reitkunst, wie sie in der Barockzeit betrieben worden ist.
Damit schliesst sich der Kreis zum launigen Vorwort im 1. Kapitel. Wir sind in der Gegenwart angekommen. Wie können wir diese Reitkunst heute, mit unserem heutigen Verständnis von Kunst bzw. dem zeitgenössischen Kunstbegriff noch betrachten? Dieser Frage widmen wir uns in den nächsten Kapiteln und gehen noch einmal einen Schritt zurück: in die Zeit zwischen den Weltkriegen, genau 100 Jahre also.
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