Kapitel 1 der Serie
Früher, sagen wir vor 30 Jahren, war reiten Reiten. Es gab Dressur und Springen, Western war neu, es gab Begriffe wie Hohe Schule oder Freizeitreiterakademie, und Piaffe und Passage gehörten zur Olympiade. Es gab Wanderreiten und Freizeitreiten. Im Grunde war Reiten ein Sport, dem man in seiner Freizeit, oder professionell nachging. Vielleicht war es das Internet, vielleicht Monty Roberts, vielleicht weil dank der New Economy doch das Halten eines ‚Privatpferdes’ möglich geworden ist. Reiten wurde zu einem Breitenphänomen. Es tauchten Begriffe auf wie Horsemanship und Pferdeflüsterer. Dominanz ersetzte den Begriff des Gehorsam.
Man kaufte sich ein Knotenhalfter und die Lösung aller Probleme mit der Spezies Pferd sollte das Round Pen liefern. Die Western-Welle brachte groteske Kandaren mit sich und parallel bekam man zu hören, dass es auch ohne alles geht, nämlich mit einem Halsring. Und dann kam das spanische Pferd. Es fegte mit seinem ultimativen Flair und seiner traumhaften Schönheit das Quarter Horse regelrecht weg. Mit ihm kam - das behaupten wir fraglos - der Begriff der Reitkunst. Er unterscheidet, neben der klassischen Dressur oder der Barockreitweise, in die klassische und die akademische Reitkunst. Als Anhänger der letzteren wollen wir unsere Frage an dieser, der akademischen Reitkunst, orientieren.
Reiten als eine Kunst zu definieren geht auf ein Werk des griechischen Schriftstellers Xenophon (ca. 430 - 354 v. Chr.) zurück. Nahezu alle Reitlehren berufen sich inhaltlich auf das 350 v. Chr. verfasste Buch ‚Peri Hippikes <technees>‘, übersetzt mit: ‚On Horsemanship‘, zu Deutsch ‚Über die Reitkunst‘. Verwendet wird der Begriff Reitkunst in zeitgenössischen Reitlehren beispielsweise von Bent Branderup. Er hat noch um das Adjektiv akademisch erweitert.
Diese Akademische Reitkunst bezieht sich, neben antiken Quellen, auf wichtige Reitmeister des Barock bis hin in die Neuzeit.
Bent Branderup sieht seine Lehre auch als ein archäologisches Forschungsprojekt, welches er ständig hinterfragt und weiter entwickelt.
Eine wichtige Zielsetzung seiner Lehre ist es, dem Pferd ein höheres körperliches und verbunden damit geistiges Wohlbefinden anzubieten, als es ohne den Austausch mit dem Menschen erreichen könnte. Dieser folgt idealerweise dabei Prinzipien, welche offen genug sind, um der individuellen Veranlagung des Pferdes Raum zu geben, es dabei aber nicht zu überfordern. Das Pferd erlernt durch den Eingriff des Menschen Fähigkeiten, die es selbst nicht lernen könnte, selbst wenn auf die natürliche Bewegungsmotorik referenziert wird.
Da es sich hierbei um einen Prozess handelt welcher bestimmten Techniken, theoretischem und empirischem Wissen, aber auch kreativen Impulsen folgt, der Mensch und Pferd gleichermaßen fordert, haben wir an dieser Stelle angesetzt zu fragen, ob es sich dabei gleichermaßen um einen künstlerischen Prozess handeln könnte.
Benozzo Gozzoli: Ausschnitt aus: La capella dei Magi von 1450
Zeitgenössiche Reitweise an einem spätmittelalterlichen Hof, vermutlich Florenz. Bemerkenswert ist der entspannte Sitz der Reiter, die ebenfalls lockere Zügelführung, die prächtigen Gewänder und die grosse Anmut.
Der wichtigste Einschnitt in das gesamte Geschehen europäischer Kunst - denn die ist es, welche wir gewohnter Weise betrachten - wird durch die Renaissance markiert. Die Renaissance wird auch als erste europäische Revolution bezeichnet, also ein Geschehen welches nicht nur die bildende Kunst betrifft. In den Bildwerken der Zeit zwischen 1450 und 1550 können wir es aber am Besten erkennen: es ist die Geburt des Individuums. Wo vorher holzschnittartige Larven für bestimmte Menschentypen standen, erkennen wir nun Gesichter.
Die Kunst an erster Stelle erlebt eine Wiedergeburt, eine Renaissance. Denn wenn wir in die Antikensammlung gehen, blicken uns ebenfalls menschliche Gesichter und individuelle Züge an. Die Renaissance hat als europäisches Phänomen versucht die Philosophie, die Wissenschaften und insbesondere die Kunst der griechischen Antike aufzugreifen und zu beleben.
Diese wichtige kulturelle Leistung hat in den Humanismus und die Aufklärung geführt, und dass uns die Brücke zur Antike nicht nur erhalten geblieben ist, sondern wir auch nach wie vor Theorien, Erkenntnisse und philosophischen Inhalt der vorchristlichen Zeit in unserer Kultur praktizieren. Und ebenfalls erstmalig wird der Figur des Künstlers als Erschaffer ein Stellenwert eingeräumt, und er wird als Mensch mit dem Werk verbunden.
Man kann ohne Zweifel behaupten, dass ohne die Renaissance, welche den Menschen ins Zentrum der Betrachtung rückt, ja zu ihrem Gegenstand macht, der spätere Umbruch in die Moderne nicht möglich gewesen wäre.
Leonardo da Vinci: Studie für ein Reiterstandbild 1488/89
Die Bezeichnung Akademie geht auf die von Platon 387 v. Chr. gegründete antike Philosophenschule in Athen zurück. Der Ort dieser Schule befand sich in einem als Akademeia bezeichneten Hain ausserhalb der Stadtmauer von Athen. Dort erteilte Platon philosophisch wissenschaftlichen Unterricht, fraglos für eine gesellschaftliche Oberschicht, welche ihn finanzierte. Im Laufe der Zeit wurden die Schulmitglieder Akademiker genannt.
Wichtig an der Haltung der Akademiker seit Platon und seiner Nachfolge ist die Offenheit des Diskurses. Es gab kein Dogma. Platon wählte für seine Schriften den Dialog, um verschiedene Positionen diskursiv - von verschiedenen Standpunkten aus - zu verhandeln. Weitere wichtige Akademiker sind Aristoteles, Sokrates und der bereits erwähnte Schüler des Sokrates, Xenophon.
Das Vorbild der antiken Gelehrtenschule hat während der Renaissancezeit zu Akademiegründungen zunächst in Italien geführt. Es handelte sich um säkulare Bruderschaften, deren Tätigkeit oft nicht nach aussen hin definiert wurde. Das Modell der Akademie breitete sich über ganz Europa aus und wird von einer Quelle, neben der Erfindung des Buchdrucks, als eine Hauptursache für die schnelle, und länderübergreifende Vermittlung der Renaissance Ideen beschrieben. Bemerkenswert auch, dass diese Akademien nicht nur aus Adeligen bestanden haben, sondern Vertreter des aufkommenden Bürgertums ebenfalls auf den Mitgliederlisten zu finden sind.
Grafik aus dem Buch 'Ordine di Cavalcare' des Federico Griso, genannt Grisone von 1550/deutsche Übersetzung von 1570
Daher nimmt es nicht Wunder, dass die Reitlehren des Xenophon ebenfalls wieder Einzug in die Vermittlung des Reitens der damaligen Gegenwart gewinnen und für eine praktische Umsetzung ihren Ort in einer Reitakademie finden. Der heute aufgrund seiner zum Teil tierquälerischen Methoden umstrittene
Federico Grisone gründete als erster ein solches Institut 1532 in Neapel ausserhalb eines Fürstenhofes.
davor, im Mittelalter, war alles, was mit einer Ausbildung der besonders hochwertigen Pferde und ihrer Reiter zusammenhing, an die Fürstenhöfe und Königshäuser gebunden. Reiten, eine der ritterlichen Fähigkeiten, wurde im Privatunterricht an den Höfen vermittelt.
Bertolo di Fredi: Ausschnitt aus Anbetung der Könige von 1367. Wir sehen den Schulhalt, eine kleine Levde und vermutlich eine Piaffe beim dritten Reiter mit dem Fuchs. Dieses Bild aus dem späten Mittelalter ist weit vor der Gründung einer ersten Reitakademie entstanden.
Die
septem artes liberales bezeichnen den Überbegriff für die ‚freien Wissenschaften‘. Im Lateinischen wird hierfür artes ‚die Künste‘ gesetzt. Hierzu gehören beispielsweise: Grammatik, Rhetorik und Dialektik, um die Basis zu nennen.
Mit lat.
septem probitates bezeichnet wurden der männlichen adligen Jugend sieben ritterlichen Fähigkeiten anerzogen: Reiten, Fechten, Bogenschießen, Jagen, Schwimmen, Schachspielen und musikalische, oder lyrische Vortragskunst
Man kann davon ausgehen, dass Ritter, anderen Annahmen zum Trotz, gute Reiter gewesen sind und ihre Ausbildung, insbesondere für den Kampf zu Pferd, viel Zeit in Anspruch genommen hat. Nur kann man dieses Wissen nicht mehr reproduzieren, da es so gut wie nicht aufgeschrieben worden ist. Aber Bilder wie jenes von Bertoli di Fredi, 180 Jahre vor der Gründung der ersten Reitakademie, zeigen es deutlich genug.
An der Reitakademie des Grisone lernen nun wiederum junge Adelige, aber er ist nicht mehr an einen Hof gebunden, und er schreibt seine Reitlehre auf. Neben dem Netzwerk der Akademien wurden Bücher zu einem Wissensquell, der Lehrinhalte für viel mehr Menschen verschiedener Stände zugänglich gemacht hat. Mit dem Impuls, den Grisone mit der Gründung der Reitakademie in Neapel gesetzt hat, entstehen Europaweit Reitakademien und über das Buch eine Annäherung zu einer Grundlage von Pferdewissen. Sein Buch
Ordine di Calvalcare wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, woran man erkennen kann, dass es auf ein hohes Interesse getroffen ist.
Im nächsten Beitrag sprechen wir über mögliche Übersetzungsinterpretation und die großen französischen Reitmeister der Barockzeit.
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